Halbpolitisch sein hat ein Ende – Das Gute an der US-Wahl

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Es ist okay jetzt kurz auszurasten, Angst zu haben und an der Welt zu zweifeln. Ich habe gestern vor Wut sogar kurz geweint. Es ist aber niemandem geholfen, wenn wir jetzt verzweifeln, keine Nachrichten mehr zu lesen und die Hälfte der Welt als dumm zu bezeichnen. Wenn ihr jetzt die Wahl habt zwischen stärkerem politischen Engagement oder Menschenhass, bitte entscheidet euch für ersteres. Ich mach auch mit. Wegsehen ist keine Option.

Lange Zeit war ich sehr halbpolitisch. Ich postete Links, führte hier und da ein paar Diskussionen auf Facebook, half wenige Male im Flüchtlingsheim aus und schleppte mich auf vereinzelte Demos. Das war bequem und beruhigte mein Gewissen. Ich fühlte mich überlegen, weil ich zumindest viele Artikel las und wenn es mir mal zuviel wurde hatte ich den Biedermeier-Traum von einem Bauernhof in Brandenburg, um mit dem ganzen Mist nichts mehr zu tun haben zu müssen. Das hat jetzt ein Ende.

Unpolitisch sein ist ein Luxus, den man sich nur in guten Zeiten leisten kann

Wenn mir das letzte Jahr eines gezeigt hat, dann dass die Politik wieder mehr in den Alltag der Menschen gehört. Es ist anstrengend, es tut manchmal weh, doch wenn man sich nicht engagiert, gibt man das Zepter denen, die am lautesten schreien und das sind gerade leider Menschen mit faschistischen und sexistischen Ansichten. Das tolle am neuen Präsidenten der USA ist für mich, dass es zumindest im Moment noch so erscheint, als würden einige Menschen aufwachen aus der kuschligen Welt der scheinbaren Weltoffenheit, Emanzipation und unbegrenzten Möglichkeiten. Zu lange haben wir über die neuen politischen Strömungen gelacht und dabei nicht gemerkt, dass das Gehetze über die Rechtschreibfehler von AFD und NPD-Politikern oder die Haare von T. nur Öl ins Feuer gießen und genauso politisch substanzlos, wie auch verhöhnet und spaltend wirken.

Einige der klügsten Menschen, die ich kenne interessieren sich nicht fürs Weltgeschehen & scheißen auf Demokratie und würden sich lieber von Google regieren lassen.

Facetten zwischen Gutmensch und Wutbürger

Es gibt wenig grau zwischen all diesem schwarz und weiß und ich habe schon mehr als eine Abhandlung dazu geschrieben, wie sehr das am Internet liegen könnte, doch das grundliegende Problem ist für mich, so pathetisch es auch klingt, das Miteinander. Es geht hier genau nicht darum jemanden Wutbürger oder Gutmensch zu schimpfen, es geht darum wieder einen kleinen gemeinsamen Nenner zu finden. Wir dürfen keine gespaltene Gesellschaft werden, in der es nur darum geht, dem Abstieg zu entkommen. Besonders Menschen aus der bürgerlichen Mitte fühlen sich zu besagten politischen Ansätzen hingezogen, denn sie haben Angst etwas zu verlieren, abzusteigen, nicht zu den wenigen zu gehören, die am Ende noch Jobs haben und Geld verdienen.

„Vielleicht ist mein Job schlecht, aber wenigstens bin ich nicht so ein Assi aus dem Unterschichten-TV“ eine Theorie die durch Scripted Reality schnell verbreitet ist und sich festsetzen kann.

Ich muss mich zügeln nicht zu weit auszuholen, was die Gründe sind Parteien zu wählen, vielleicht hole ich das an anderer Stelle nach, aber mein großer Wunsch wäre, wenn ihr versuchen würdet selbst einmal ein paar dieser Ansätze verstehen zu wollen, ohne euch über sie zu stellen. Es geht vielen Menschen schlecht, aber hinzukommt dieser beschissene Druck, den wir uns selber alle untereinander machen + egozentrische gesellschaftlich losgelöste Lebensplanung. Ich nehme mich da nicht aus. Wie oft sitze ich da, denke über mich selber nach und maule dann rum, weil ich nicht schon mit 25 Geschäftsführerin wurde oder doch nicht das Leben wie in einer Pinterest-Wohnung habe, das alle anderen in meinem Instagram-Universum vermeintlich führen. Der größte Bullshit.img_1840

Wie viel Zeit verbringt ihr am Tag, um darüber nachzudenken, was ihr alles nicht habt im Vergleich dazu, was ihr vielleicht mehr habt als andere?

„Schrei nach Liebe“-Anspielung, ick hör dir trapsen

Wir sind Herdentiere und brauchen einander und doch scheinen Eigenschaften wie Empathie komplett verbummelt zu gehen in einer Welt, in der ich mir vom Schlüpper über Klingelton alles personalisieren lassen kann. Dabei scheinen Jugendliche eigentlich noch ziemlich empathisch. Eine These könnte also sein, dass uns die Berufswelt vom Zusammenhalt ablenkt. Wer kennt das auch nicht? Mädelsabende absagen, weil man noch arbeiten muss, traurige Omis erst zwei Tage später anrufen, weil man erstmal seinen Scheiß mache musste und es am Ende auch noch vergessen hat. Viele PEGIDA-Mitglieder gehen auf Demos am Montag wie andere in die Kirche am Sonntag. Sie wollen zusammen etwas bewegen, sie fühlen sich wie Revolutionäre, die spüren die Unterstützung untereinander. Elitäre Verachtung und Unverständnis anderer Parteien mit ihren VertreterInnen zu sprechen bestätigt diesen Gedanken nur noch. Es geht nicht darum jemanden Nazi zu nennen, einige Menschen sympathisieren mit AFD und Der Linken zugleich. Klingt schizophren, aber wenn man die Probleme soziale Ungerechtigkeit und Armutsrente nimmt, dann gibt es hier heavy Parallelen. 

Wir sind eine Gesellschaft der Klassen, in der die einen führen und die anderen folgen. “ Elisabeth Raether, die Zeit.

Was also machen?

Entdeckt den Buddha in euch, denn wenn du für Toleranz stehen wollt, müsst ihr auch verstehen und akzeptieren, dass es andere Meinungen gibt und die gerade stark werden. Ich würde mir wünschen, dass ich jeden Menschen hier mal ne Runde auf ERASMUS-Tour schicken könnte, denn das hat mich so viel gelehrt, dabei war ich da schon 26 und dachte ich wüsste was über Kulturen. Das wird aber nicht so schnell passieren & die Erfahrungen anderer müssen wir akzeptieren. Bis dahin müssen die Dialoge offen bleiben, sonst gibt es nur noch links und rechts und oben und unten.

Lasst euch nicht mit Konsum ablenken, auch wenn das so einfach ist. Früher hab ich so oft an schlechten Tagen die Onlineshops durchsucht. Viele unserer Freizeitaktivitäten dienen nur noch der Selbstoptimierung oder wir setzen uns mittlerweile fast kompletten Dauerwerbesendungen (Instagram Product Placement, Pinterest, Youtube, bezahlte Blogposts) als Zeitvertreib aus. Warum sind Achtsamkeitsübungen und Meditation wohl zur Zeit so beliebt? Weil wir es selbst nicht hinbekommen uns nicht konstant zu zuballern & unsere Zeitwahrnehmung verzerren. Mit echten Menschen in der echten Welt echte Dinge tun fühlt sich ganz anders an und helfen uns bei uns selbst zu bleiben und nicht jeden Bereich unseres Lebens zu kapitalisieren.

Wir kommen naturliebend zurück von Reisen aus Neuseeland, Thailand und den Seychellen und sind zu Hause wieder zu faul uns mit Naturschutz zu befassen.

Packt die Ellenbogen in Watte, denn es wird uns besser gehen, wenn es allen besser geht. Die Welt geht über unsere eigene kleine Lebenswelt hinaus und Themen wie Armut, Umwelt und Einwanderung sind keine Themen, die wir auf einzelne Leute abschieben können, die das schon machen werden. Über Bettler in der Bahn braucht ihr nicht stöhnen, sondern lieber hinterfragen, wieso es so viele gibt. Verachtet andere Meinungen nicht, egal wie spooky sie erstmal erscheinen und übt die Emotion aus Diskussionen rauszunehmen, auch wenn ihr manchmal das Gefühl habt, dass euch gleich die Amygdala platzt.

Gestaltet mit und grenzt euch nicht ab. Klingt immer so super und ist daher schon fast inflationär, aber eine so einfache Sache. In hetzigen Zeiten, in der niemand mehr für irgendwas Zeit hat, ist genau dieses das größte Gut. Viele Nachbarschaften organisieren sich, Ehrenämter sind leicht zu finden. Ich für meinen Fall werde mich weiter für Medienkompetenz einsetzen und plane Workshops für Schulen. Wenn euch das alles lange egal war, dann nutzt eure Wut, den Frust und die Überforderung nach dem Wahlergebnis um sie in Taten umzusetzen. Lasst nicht die Ohnmacht und den Menschenhass gewinnen. Besonders, wenn ihr noch Babys machen wollt, ist wegsehen keine Option.

Sich ins Private zurück zu ziehen, weil es sich anfühlt als hätten wir zumindest da die Kontrolle, als könnten wir unseren Kindern die Werte mitgeben, die wir wollen und durch nachhaltigen Konsum alles richtig machen, wird uns leider nicht mehr lange schützen. Klimawandelbedingte Umweltkatastrophen und mögliche Kriege machen davor nämlich keinen Halt.

Lasst uns nicht mehr zynisch über Kinderarbeit, White Trash und Klimawandel scherzen, sondern endlich den Arsch hoch bekommen!

Und wenn es mal wieder ganz schlimm wird, lies das hier: Wie man jetzt weitermacht

 

Social Media Irrgärtnerin, die immer zuerst die Faxnummer anruft & eines Tages dadurch noch einmal ihr Gehör verlieren wird.

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